Digitalis – IV Dichografie
So habe ich es gesehen
Über die zukünftigen Bilder politischer Ereignisse, deren Wahrnehmung und die digitale Komposition politischer Geschehnisse.
Die Bildserie „So habe ich es gesehen“ zeigt die kämpfenden Politiker und Politikerinnen auf ihren jeweiligen Kundgebungen im aktuellen Bundestagswahlkampf. Der Ausgang des Wahlkampfes ist noch offen. Es scheint, die SPD mit ihrem Kanzlerkandidaten Olaf Scholz hat die größten Chancen, zu gewinnen.
Die folgenden Abbildungen zeigen die Wahlkundgebungen der Akteure Olaf Scholz (SPD), Robert Habeck und Annalena Baerbock (Die Grünen), Sahra Wagenknecht und Oskar Lafontaine (Die Linke), Armin Laschet (CDU) und Christian Lindner (FDP). Fotografiert habe ich während der Wahlkundgebungen an den Schauplätzen in Oldenburg, Neuss, Worms, Essen und Köln im August und September 2021.
Und nun?
Was hat man in den Bildern gesehen? Vielleicht wird man auch fragen: Soll das die Neue Fotografie sein oder was ist nun anders?
Auf den ersten Blick zeigen die Bilder vordergründig nichts Besonderes und man unterstellt ihnen nichts Schwerwiegendes. Die Harmlosigkeit der abgebildeten Realität lässt den Betrachter vielleicht sogar ein wenig schläfrig werden. Die Schläfrigkeit, die einen überkommt, lässt vermuten, dass diese Bilder dem Genre der Dokumentarfotografie zuzuordnen sein könnten. Die Wachsamkeit schwindet zunehmend und gleichermaßen wächst der Eindruck einer authentischen fotojournalistisch-dokumentarischen Wahrheit.
Inhaltlich nimmt man auf den Bildern den Eindruck einer Kommunikation wahr, die zwischen Politiker und Wähler nicht richtig in Gang kommt. Eigentlich wirken die Politiker ihren Wählern gegenüber entfremdet. Das Publikum selbst wirkt entrückt, gelangweilt, desinteressiert oder starr, teils wie in einer Trance. Auch die Schauplätze erregen keine besondere Aufmerksamkeit. Interpretationen der Szenerien sind offen und stellen – mit den entsprechenden Headlines versehen – für die spätere Verwendung im fotojournalistischen Kontext eine große Bandbreite an Aussagen zur Verfügung.
Es gibt nur ein Problem: Diese Szenerien sind so nicht geschehen. Verschiedene Zeitebenen im Ablauf des Geschehens sind hier zusammengesetzt und lassen nun in ihrer Kombination neue oder gar gegenteilige Aussagen über das Ereignis entstehen. Gleichzeitig wird eine authentische Atmosphäre suggeriert, die durch eine journalistisch-dokumentarische Ästhetik gefestigt wird. Aber nichts in diesen Bildern ist so, wie es scheint.
Oder anders gesagt: Sie sehen die Imitation von Fotografie
Aber wie komme ich darauf? Was macht den Kern der Veränderung aus? Die Serie und ein ausführlicher Essay, veröffentlicht in einer Künstlerzeitung, gibt einen kritischen Ausblick auf die mögliche zukünftige Fotografie politischer Ereignisse und offenbart die weitreichende Änderung der Wahrnehmung von Fotojournalismus.
Künstlerzeitung No.3 – So habe ich es gesehen
mit 23 Bildern, einem Essay und einer Gestaltung von Bernd Arnold. Zeitungsdruck, 38x29cm, 52 Seiten, Aufl. 50 Expl., deutsch, Köln, Februar 2022. [vergriffen]
Siehe auch die erste Arbeit von 1987/88 Lady Di und der neue Fotograf. Dieser erste Essay diente als Ausgangspunkt für die Arbeit "So habe ich es gesehen".
Der Begriff Dichografie (aus altgriechisch δίχα dícha, „zweifach, doppelt“) soll einerseits auf die binäre Bildspeicherung und andrerseits auf ein Parallel-Universum imitierter "Wirklichkeitsabbilder" verweisen.
Aus dem Essay: So habe ich es gesehen (2021)
Dichografie?
Warum ist mir eine begriffliche Unterscheidung wichtig?
Die Thematik des Wahlkampfes scheint mir geeignet zu sein, um die Veränderung der Wahrnehmung zwischen einer dokumentarischen Fotografie und dem Imitat einer Fotografie zu beschreiben. Der Unterschied meiner analogen und analog tradierten digitalen Fotografie der Wahlkampfrituale aus den Jahren von 1984 bis 2021 wird zur hier gezeigten Bildserie besonders deutlich.
Die analog-tradierte fotografische Serie Wahl Kampf Ritual umfasst mehrere Ebenen. Abgebildet sind rund 35 Jahre der Wahlkämpfe aus einer subjektiven Sicht. Sie sind dennoch dokumentarisch, da sie einerseits mein zeitgenössisches Denken beinhaltet, meine Bewegung in Räume hinein zeigen, die Auswahl der reflektierten Lichtspuren auf einen bestimmten Aktionsraum von Politikern eingrenzt und auf Veränderungen innerhalb eines Zeitraumes von über drei Jahrzehnten verweisen. Die Fotografien sind mit den gebräuchlichen analogen Techniken, wie Kontrast- und Helligkeitseinstellungen, Nachbelichtung, Aufhellung und Fleckretusche bearbeitet worden. Alle diese Fotografien enthalten „unverschobene“ Spuren reflektierten Lichtes einer Wirklichkeit, wie auch immer sie wahrgenommen und interpretiert wird. Das trifft auf die neuen Bilder der Serie So habe ich es gesehen, die ich hier Dichografien nenne, nicht zu. Hier ist alles möglich und erlaubt. Nichts muss so sein, wie es scheint.
Die Fotografien lassen sich als in dieser Zeit produziert belegen, durch Veröffentlichungen in Printmedien, als Vintage Prints oder in Ausstellungen. Hinzu kommen aus diesen Jahren weitere Belege, wie z.B. das Bildmaterial anderer Fotografen in Archiven und Zeitungen, die auf die seinerzeit existierenden Personen, Ereignisse und Konstellationen im Raum verweisen und eine nachträgliche Fälschung erheblich erschweren würde.
Alle Arbeitsschritte und Herstellungsweisen sind aufgrund der vorhandenen Negative, Prints und Rohdaten in meinem Archiv verfügbar, einsehbar und überprüfbar. Noch.
Die hier gezeigten noch MI-generierten Vorläufer der Dichografien jedoch bedürfen keiner Bezeugung.
Erst durch die begriffliche Trennung der visuell kaum unterscheidbaren Bilder in Fotografien und Dichografien wird deutlich, dass es Bilder zweier völlig unterschiedlicher Epochen sind, die unspektakulär den Übergang vom analogen ins digitale Zeitalter beinhalten.
Vorhergehendes Bild:
Dichografie oder Fotografie?
Straßenszene in Köln, 2021
Ab 6. Oktober 2023 erhältlich
Die Welt der Neuen Bilder
Dokumentarische Fotografie und KIneu!
Klappenbroschur, 14,5 cm x 19,8 cm, 144 Seiten, 25 sw Abbildungen,
morisel Verlag, ISBN: 978-3-943915-60-0, Preis: 19,90 Euro
Der Verlag über das Buch:
Die künstliche Intelligenz schafft völlig neue Möglichkeiten in der Erzeugung von Bildern. Erstmals sind alle Bildgebungstechniken der Kunstgeschichte in einem Werkzeug zusammengeführt, ausführbar von jedem Computerbesitzer ohne besondere Fachkenntnisse. Erstellen lassen sich damit Bilder, die aussehen wie Fotografien, aber keine sind. Was bedeutet das für die Fotografie im Allgemeinen und die dokumentarische Fotografie im Besonderen? Eine Diskussion über diese Fragen ist überfällig, wenn man bedenkt, dass das Vertrauen in die Authentizität von Fotos fast 200 Jahre lang die Menschheitsgeschichte mitgeprägt hat.
Bernd Arnold, Autor und Fotograf von Das Kölner Heil und Wahl Kampf Ritual, ist überzeugt, dass wir eine Neue Welt betreten werden, wenn authentische Fotos und KI-generierte Fotografie-Imitationen bei der Bildung unseres Welt- und Geschichtsbildes miteinander konkurrieren. In drei Essays analysiert er die Technik- und Wahrnehmungsgeschichte der Fotografie, erklärt das Neue und Innovative der KI und befasst sich mit der zukünftigen Rolle der dokumentarischen Fotografie und deren Produzenten.
»Es sind nicht die sensationellen Bilder, die das Vertrauen untergraben, sondern die Bilder, die wie alltäglich gewohnte Fotografien erscheinen, aber Fotografie imitieren, Realität modulieren und in den gewohnten Kanälen im Laufe der Jahre zunehmend verbreitet werden. (aus: Die Welt der Neuen Bilder)«