Digitalis – Studienarbeit über die zukünftge Arbeit des Fotojournalisten

Digitalis – IV Dichografie

Studienarbeit
Lady Di und der Neue Fotograf

Freie Studienarbeit zu den veränderten Arbeitsbedingungen eines Fotojournalisten im aufkommenden digitalen Zeitalter und der damit einhergehenden Auflösung der Authentizität der Fotografie am Beispiel der tagesaktuellen Berichterstattung.

Studienarbeit – Lady Di und der Neue Fotograf – Inhaltsverzeichnis

Der Auslöser für das Thema der Studienarbiet war die Vorstellung einer neuen Bildaufzeichnungstechnik auf der Photokina 1986 in Köln. Die neue Technik der digitalen Bildaufzeichnung hat eine grundlegende Veränderung des Fotojournalismus in Gang gesetzt.

Die theoretische Arbeit entstand im Wintersemester 1987/88 an der Fachhochschule Dortmund. Sie wurde Grundlage und Ausgangspunkt für den Zyklus DIGITALIS, in dem – in verschiedenen Serien – die langsam voranschreitende Auflösung der Authentizität der Fotografie thematisiert ist.

links: Ausschnitt aus Studienarbeit von 1987/88

Textausschnitt aus Studienarbeit zu synthetischen Bildern


Studienarbeit
Fachprüfung WS 1987/1988

Fachprüfung Designtheorie im WS 1987/88
vorgelegt am 28. Januar 1988
(Exemplar mit letzten Korrekturen ist hier abgebildet)



Inhaltsverzeichnis

  • - Einleitung
  • - Beschreibung der digitalen Bildaufzeichnung im Vergleich zur konventionellen Silberhalogenid-Technik
  • - Eine kurze Erläuterung des Begriffes der Authentizität der Fotografie
  • - Geschichte der Fotografie, insbesondere des Fotojournalismus in Bezug zur technischen Entwicklung als Grad der Aneignung von Wirklichkeit
  • - Die Wirkung der Authentizität der Fotografie auf den Rezipienten
  • - Der Verlust der Authentizität des Bildes durch die digitale Bildaufzeichnung am Beispiel der tagesaktuellen Berichterstattung
  • -Das Fazit
  • -Anmerkungen
  • -Quellen

Einleitung

Auf der Photokina 1986 in Köln1 wurde eine neue Bildaufzeichnungstechnik vorgestellt, die im Bereich des Fotojournalismus eine grundlegende Veränderung der Authentizität des Fotos mit sich bringen wird.

Die Veränderung der Authentizität der Fotografie durch die Einführung der digitalen Bildaufzeichnung beschränke ich weitgehend auf den Bereich der Tageszeitung, da im tagesaktuellen Bereich eine besondere Nähe zur Authentizität der Fotografie besteht.

Ich möchte zunächst in einer kurzen Form die neue digitale Bildtechnik im Vergleich zur konventionellen Bildaufzeichnung beschreiben. Im Folgenden werde ich den Begriff der Authentizität in Bezug zur Fotografie erläutern, um so auf die geschichtliche Entwicklung der fotografischen Verfahren einzugehen. Hierbei werde ich unter der Berücksichtigung der Authentizität den Zusammenhang zwischen neuen fototechnischen Entwicklungen und dem Grad der Wirklichkeitsaneignung darlegen. Von dort aufbauend werde ich den Wirklichkeitsgrad der authentischen Fotografie beschreiben, um so am Beispiel eines tagesaktuellen Fotos zum Verlust der Authentizität der Fotografie durch die digitale Bildaufzeichnung überzuleiten.

Beschreibung der digitalen Bildaufzeichnung im Vergleich zur konventionellen Silberhalogenidtechnik

Die fortschreitende Entwicklung der Chip–Technologie hatte auch im fotografischen Bereich eine neue Bildaufzeichnungstechnik zur Folge. Die bisherige Aufzeichnung des Bildes bzw. der Wirklichkeit durch Silberhalogenidkristalle (die sich durch das vom Objekt reflektierte Licht chemisch zusammenballen und somit die Tonwerte der Fotografie ausmachen) wird durch die digitale Bildaufzeichnung in naher Zukunft in weiten Bereichen der Fotografie ersetzt werden. Der grundlegende Unterschied zur konventionellen Fotografie besteht darin, dass durch die neue Technologie ein Wirklichkeitsausschnitt digital auf eine Diskette gebannt wird, d.h. die Wirklichkeit in eine elektromagnetisch gespeicherte Information umzusetzen. Die entscheidende Veränderung durch das neue Still Video System (SVS) betrifft den Bildträger.

Das Pixel oder auch der Bildpunkt, der, gleich einem Mosaikstein, Informationseinheit im digitalen Bild ist, kann (was vorher noch eine elektromagnetisch aufgezeichnete Informationseinheit war) auf einem Bildschirm wiedergegeben oder als Papierbild ausgedruckt werden. Bei näherer Betrachtung des Bildes ähnelt die Struktur einem römischen Mosaiksteinboden. Der jetzige Stand der Auflösung des digitalen Bildes bzw. des CCD-Chips liegt etwa bei 1 Mio. Pixel. Die jetzige Auflösung des CCD-Chips kann man mit einem Diskbild vergleichen.2 Bei einer auf reine s/w Aufnahmen modifizierten Kamera kann man mit einer 25-prozentig verbesserten Bildwiedergabe rechnen.3 Innerhalb der Tageszeitungsfotografie liegt die Auflösung des digitalen Bildes damit schon im Bereich des Erträglichen.

Mit der Digitalisierung des Abgebildeten ist es nun möglich, Fotos wie andere digitale Informationen beliebig zu verändern. Der festgehaltene Wirklichkeitsausschnitt wird in Verbindung mit einem Computer zum Rohstoff, der vielfältig einsetzbar wird und hinsichtlich seiner Schärfe, Auflösung, Perspektive, Beleuchtung, Farbigkeit, Größe, Kontrast variabel ist. Ganze Bildteile können verschoben werden, verschwinden oder in einem elektromagnetischen Bildarchiv gesammelt werden und dort für andere Bilder wieder zur Verfügung stehen. Der Übergang zum synthetisch hergestellten Bild wird fließend. Das Bild verliert den Charakter der Authentizität, da eine Kontrollierbarkeit wie bei der Negativtechnik nicht mehr vorhanden ist: Die in der Silberhalogenid-Technik in einem chemisch–physikalischen Prozess festgehaltenen Informationen sind ohne einen Qualitätsverlust nicht mehr zu verändern. Dieser in zukünftigen Maßstäben Fehler ist aber eine grundlegende Voraussetzung für die Glaubwürdigkeit des Fotos, dass der Wirklichkeitsausschnitt authentisch bzw. wahrhaftig ist.

Eine kurze Erläuterung des Begriffes der Authentizität der Fotografie

Lady Di und Prinz Charles in Köln 1987

„... zum Augenblicke sagen, verweile doch!“4 ist mit der Fotografie möglich geworden. Die Reflexion des Lichtes real vorhandener Objekte wird analog auf einem Negativ festgehalten. Ein Ausschnitt aus der Realität, die nur einen Augenblick dauert, die Zeit der sich bewegenden Realität, wird für einen Moment aufgehalten und fixiert. So ist jedes Foto, unabhängig von seiner technischen Qualität oder vom Grad der Inszenierung5, die Fixierung eines vergangenen Wirklichkeitsausschnittes. Im Moment des Fotografierens gefriert die Wirklichkeit zu einem historischen Augenblick, gleich wie banal die festgehaltene Wirklichkeit sein mag. Entscheidend ist die Glaubwürdigkeit, das Bezeugende der Fotografie. Selbst eine subjektive Wahrnehmung des abgelichteten Objektes verhindert nicht die analoge Übersetzung des Lichtes auf ein Papierbild. Der Wirklichkeitsausschnitt wird für den Betrachter des Bildes zu einem Stück Realität. Das Portrait eines Freundes ist nicht ein Foto, es ist der Freund! Man sucht im Gesicht nach Stimmung, nach Veränderung, man sucht in der vergangenen Wirklichkeit, im historischen Augenblick, als wäre er »Hier und Jetzt« vorhanden. Die Fotografie ist eine Spur, die Vergangenes bezeugt. Das Negativ als Träger der Spur versichert uns der Glaubwürdigkeit, der Echtheit des Vergangenen. Denn eine nachträgliche Veränderung des Fotos ist nachweisbar und die Authentizität des fotografischen Dokuments ist damit gesichert.

Geschichte der Fotografie, insbesondere des Fotojournalismus in Bezug zur technischen Entwicklung als Grad der Aneignung von Wirklichkeit

Die Wirklichkeit mit nach Hause zu nehmen, die Alpen in den eigenen vier Wänden zu wissen, die Adria, die Pyramiden, dazu einen Elefanten und andere kleine Abbilder machen die Welt zur eigenen Erfahrung. Mit der Erfindung der Fotografie im Jahre 1839 war es möglich, die Welt mit einer bis dahin nie da gewesenen Präzision wiederzugeben: »…die Zartheit der Umrisse, die Reinheit der Formen…die Ausführlichkeit der allergeringsten Details, das alles findet sich in höchster Vollendung ausgedrückt.«6

Die ersten um 1830 entstehenden illustrierten Wochenzeitungen waren bis zu den ersten Daguerreotypien auf Illustrationen angewiesen, die, dem Naturalismus dieser Zeit entsprechend, eine genaue Beschreibung des Ereignisses sein sollten. »… die Zeit zum Stillstehen zu bringen…«7 war ein wichtiges Stilmittel in der Malerei, um den Schein der Authentizität zu verstärken. Der Fotografie wurde vorgegriffen, indem man versuchte, im Bild das Momenthafte einzufangen. So war es möglich, ein genaueres Abbild der Realität zu schaffen. Gleichzeitig der Versuch, die Glaubwürdigkeit des Erzählten zu erhöhen.

Die Illustrationen wurden nach 1839 immer häufiger nach fotografischen Vorlagen hergestellt, da bis zur Nutzung der Autotypie die Fotografie abgezeichnet und auf einen Holzstock übertragen werden musste, um so vervielfältigt werden zu können. Erstaunlich dabei ist »…das Wissen des Lesers um die fotografische Vorlage als Garant für die Wahrhaftigkeit der Wiedergabe der Ereignisse und Gegebenheiten.«8 Der Gedanke, dass das Ereignis als Foto vorhanden und deshalb als Beweismittel immer verfügbar ist, genügte, um dem in der Zeichnung dargestellten Ereignis Glauben zu schenken. »So erscheint denn unter den Bildberichten der Illustrierten immer häufiger der Vermerk – Nach einer Originalfotografie gezeichnet.«9

Das erste veröffentlichte Foto erschien 1880 im New Yorker »Daily Graphic«, einer Tageszeitung, die das neue Verfahren der Autotypie erstmals verwendete (»…Zerlegung des Fotos – mit Hilfe eines vor die fotografische Platte geschalteten Linienrasters in minimale Teilchen«).10 Die Erfindungen der Trockenplatte im Jahre 1871, der kürzeren Belichtungszeit 1878 auf eine Zeit von 1/25, des offenen Blitzes 1887 und die Verbesserung der Objektive waren Voraussetzung für eine Fotografie, die das gesellschaftliche Leben zu ihrem Gegenstand machen konnte. Es sollte aber noch bis Anfang des 20. Jahrhunderts dauern, bis die Fotografie sich in den Tageszeitungen durchsetzen konnte (da die Klischees aus finanziellen Erwägungen noch außerhalb der Zeitung hergestellt wurden und dies natürlich zu Verzögerungen führte, die aus Aktualitätsgründen nur selten durchbrochen wurden).

Die entstehende Pressefotografie beschränkte sich auf einfache Illustrationen, die meist Personen aus allen wichtigen gesellschaftlichen Kreisen zeigte und ihnen Gelegenheit zur Selbstdarstellung bot. Die Ausnahme waren Abbildungen von gesellschaftlichen Randerscheinungen, wie sie z.B. durch Jacob A. Riis mit der Beschreibung der Einwanderer in den Slums von New York gelang. Ebenso der Soziologe Lewis W. Hine, der seine Fotografie dokumentarisch einsetzte. »Ich wollte die Dinge zeigen, die abgestellt werden mussten, und ich wollte Dinge zeigen, die man anerkennen sollte.«11 Hine fotografierte Kinderarbeit, Arbeitsbedingungen von Bergarbeitern und anderen Randgruppen, um sie der Öffentlichkeit vorzuführen mit dem Bewusstsein, verändern zu wollen.

Der Bildjournalismus im modernen Sinne kam jedoch erst in den 1920er Jahren auf. Zwei der wichtigsten Faktoren waren hier Voraussetzung, um die gesellschaftlichen Erscheinungen in allen Schattierungen ausführlich offenzulegen bzw. den Menschen die Welt mit ihren Ereignissen ins Haus zu bringen und für weitere Generationen verfügbar zu machen. Ein Faktor war die Herstellung kleiner Kameras mit der Möglichkeit mehrerer Aufnahmen pro Film, Tele- und Weitwinkelobjektive, der geschlossenen Blitztechnik und empfindlicheren Filmen – sie erweiterten die technischen Möglichkeiten derart, dass die Fotografie in fast jeder Situation einsetzbar wurde. Nun war bis auf wenige Ausnahmen die Wirklichkeit abbildbar. Die grundlegende Fototechnik, das Prinzip des Festhaltens der Wirklichkeit durch die Silberhalogenidfotografie, hat sich aber bis heute (1988) nur noch in ihrer Perfektion gewandelt. Trotz der Entwicklung der Farbfotografie, der Diapositivtechnik oder der Polaroid-Fotografie ist die Eigenschaft des Bildträgers, Garant für eine analoge Wirklichkeitsübersetzung zu sein, geblieben.

Ein anderer Entwicklungszweig war das Aufkommen der Massenillustrierten. In allen größeren Städten Deutschlands entstanden in den 1920er Jahren die illustrierten Wochenzeitungen, deren Gesamtauflage 1930 fünf Millionen betrug.12 Die massenhafte Verbreitung der Welt durch den Fotojournalismus konnte ihren Anfang nehmen. Die Themen der Zeit überzogen, je nach politischer Ausrichtung der Zeitung, alle gesellschaftlichen Phänomene. Ob es sich um „Pariser Volksbälle“, „Rettung im vergasten Schacht“, „Artistenschule“, „Autorennen auf dem Nürburgring“, „Araber und Juden – Problem Palästinas“, „Karl Valentin privat“, „Kleinstadtleben“, „Adoptionsstelle“ oder um die „Junggesellin von heute“ handelte, alles wurde wichtig, wenn es originell, spannend und neu war.13

Die Rezipienten wurden einer wahren Bilderflut ausgesetzt: „..., weil wir von Bildern vielmehr umstellt, weil wir einem Dauerregen von Bildern ausgesetzt sind. Früher hatte es Bilder in der Welt gegeben, heute gibt es „die Welt als Bild“, richtiger : die Welt als Bild, als Bilderwand, die den Blick pausenlos fängt, pausenlos besetzt, die Welt pausenlos abdeckt.“14

Die Wirkung der Authentizität der Fotografie auf den Rezipienten

„Während des kurzen Bestehens der Commune ließen sich ihre Verteidiger gern auf den Barrikaden photographieren. Fast alle, die auf diesen Bildern von Thiers Polizei identifiziert werden konnten, wurden standrechtlich erschossen.“15

Drastischer kann man sich den Einfluss der Fotografie auf das gesellschaftliche Leben kaum vorstellen. Das Foto war Beweismittel. Die Chance einer Gegenwehr bestand für die Kommunarden nicht, denn die Authentizität widersprach jeder Leugnung. Nach der Erschießung entstanden weitere Fotos, die die in einer Reihe aufgebahrten ehemaligen Kommunarden zeigen; jetzt aber von den Vollstreckern fotografiert. Die Aufgebahrten sind tot, unwiderlegbar festgehalten in Silberhalogenid-Ansammlungen.

Heute kann man diese Fotos in Büchern oder Museen begutachten und es ist nur noch – oder besonders – die Vergangenheit sichtbar. Man betrachtet die fotografierte Vergangenheit mit einer Neugierde und versucht herauszufinden, wie es vor und nach dem festgehaltenen Augenblick wohl gewesen ist. Vielleicht ist man durch die Fotografie in der Lage, mit Hilfe eigener Lebenserfahrungen, jenes vergangene Leben in diesem einen Augenblick zu verstehen, es sogar nachzuempfinden.

Das Betrachten der Fotos ist immer auch ein Betrachten der darauf vorhandenen Objekte, die in einer nahezu perfekten Illusion ihr Sein bezeugen. Einer Illusion kann man nur schwer widerstehen, und so ist es immer wieder, je nach den Erfahrungen des eigenen Daseins, ein bei der Betrachtung der Fotografie »Insichgehen«, denn dort liegt der Sinn der Fotografie. Der Fotograf, der Auftraggeber, der Betrachter, sie alle nutzen das Foto in ihrem Sinne. Ganz der Funktion für den Nutznießer untergeordnet, verändert es sein Gesicht, wie ein Chamäleon.

Die Abbilder der sich verteidigenden Kommunarden könnten eine schöne Erinnerung für den einen oder anderen Enkel sein oder die Freundin vom außergewöhnlichen Mut überzeugen oder aber ganz banal das Beweisstück zum Todesurteil sein. Die Konsequenzen der Wirklichkeitsabbilder hätten sehr verschieden sein können bzw. der Einfluss der Fotografie auf die reale Lebensumgebung führt zu unterschiedlichen, ja gar gegensätzlichen Wirklichkeitserfahrungen. Die Grenzen zwischen Wirklichkeitserfahrungen durch die reale Umgebung und Wirklichkeitserfahrungen durch Bilder sind fließend. Die Bilderwelt hat sich in unser Bewusstsein eingeschlichen und ohne Mühe der Gegenwart bemächtigt. Das Vergangene in jedem Bild impliziert auch das Gegenwärtige und so ist der Blick auf das Foto auch ein historischer.

Zu sehr ist man in einer Welt der Bilder gefangen, um sich den vergangenen Abbildern zu verschließen. Man betrachtet das Abbild der Schwester oder der Freundin und glaubt sich ihrer Gegenwart bewusst zu werden. Man kann im Foto umhergehen, man geht in die Zeit vor und nach dem Entstehen des Fotos. Man geht mit dem Blick im Raum des Bildes spazieren, ohne den Unterschied zwischen der Illusion und der Wirklichkeit zu bemerken. Vielleicht ist es die Oberfläche des Papiers, die die Illusion wieder ins Bewusstsein rückt. Man hat Zeit das Foto anzuschauen (ein wesentlicher Unterschied zum Film); diese Zeit, die man braucht, um sich in einem fremden oder auch bekannten Raum zurechtzufinden, Dinge wieder zu erkennen oder auch nur die Veränderungen aufzuspüren. Die Dauer der Betrachtung unterliegt dem eigenen Willen und so selektiert man, was einem wahrzunehmen beliebt. Das Abgebildete ist festgehalten, eingebrannt auf dem Bildträger und jederzeit an jedem Ort einsehbar. Das Ereignis, die Spur des Wirklichkeitsausschnittes ist unwiderruflich geworden.

Die Ermordung der Juden im Dritten Reich: Wie glaubwürdig wäre die Überlieferung der Verbrechen, ohne die Fotografien, die als Beweise und Dokumente jeden Zweifel an dem Gewesenen ausräumen? Vor dem fotografischen Verfahren war Geschichte immer etwas aus dritter Hand, eine interpretierte Sicht der Dinge. Die Fotografie aber ist wie eine Camera Obscura der Geschichte, ohne sie zu erklären. Die Zeitungen und Illustrierten verbreiten diese Geschichte, auch wenn die Standpunkte sich widersprechen, da Fotos durch Text in unterschiedliche Zusammenhänge gerückt werden. Das authentische Foto in der Zeitung wird denn auch mit der visuell erfahrbaren Wirklichkeit verglichen: Lady Di hat doch ein wunderschönes Kleid an, und dieser Hut, man muss ihn haben, wenn auch nur als billige Imitation. Die Öffentlichkeit nimmt Anteil am Leben dieser Frau. Doch die größte Erfüllung ist, sie leibhaftig zu sehen und man stellt mit Erregung fest: Sie sieht aus, genau wie auf den Fotos.16

Der Verlust der Authentizität des Bildes durch die digitale Bildaufzeichnung am Beispiel der tagesaktuellen Berichterstattung

In der Tageszeitung erscheint ein Bild von Lady Di. Sie ist ein visuelles Ereignis, vorbereitet durch eine Vielzahl der Bilder und unterstützenden Texten in den Printmedien (wer sollte sich heutzutage für eine Person interessieren, die nur durch Texte in Erscheinung tritt, es sei denn es ist ein Geheimagent oder ähnliches). Ihre Fans wissen alles über Lady Di, unsbesondere wie sie sich kleidet, wie sie aussieht, wie sie mit Prinz Charles, mit ihren Kindern, Untertanen oder auch mit ihrer Wohnung aussieht. Ihre Funktion ist zu erscheinen, ein Bild zu geben, etwas zu beweisen, zu belegen (vielleicht ihr Glück, von dem andere hoffen, etwas abzubekommen oder davon zu lernen oder auch nur als Beispiel, da zu sein: »Hier, so gut geht es mir«). Doch warum reicht das Foto, um es zu glauben? Man muss es nur sehen, das Lächeln dieser Frau, um an ihrem Glück (auch wenn es nur dieser eine Moment ist) keinen Zweifel zu haben. Die Fotografie belegt es – das Lächeln.

Lady Di und Prinz Charles in Köln 1987

Dieselbe Stadt, dieselbe Frau, in derselben Zeitung, jedoch digital aufgezeichnet. Beides, das digitale Bild und das Foto, wird sich im gedruckten Zustand nicht voneinander unterscheiden; aber es sind nicht die gleichen Abbilder! Die Fotografie ist eingebrannt, selbst auf dem Negativ lässt sich dieses Lächeln erkennen. Das digitale Bild jedoch zeigt sich nicht, es ist in Ja/Nein-Informationen gespeichert und muss erst noch zusammengebaut werden, muss sich erst noch verwandeln, um gesehen zu werden.

Bis zum Augenblick des Fotografierens des Objektes – in diesem Fall Lady Di – unterscheiden sich beide Verfahren nicht. Nachdem das Negativ belichtet ist, hat der Fotograf kaum noch eine Einflussmöglichkeit, dem Ereignis eine Veränderung zuzufügen. Für den Fotografen ist mit dem Belichten des Negativs der Vorgang des Festhaltens weitgehend beendet; doch für das digitale Bild beginnt hier erst die Bildherstellung. Das Ereignis, die Niederkunft Lady Di`s wird zur Rohware. Der zukünftige „Fotograf“, ausgerüstet mit einer Videoanlage, Telefon, Scanner und einem Computer,17 ist nun in der Lage das Ereignis, bzw. den vorerst festgehaltenen Wirklichkeitsausschnitt, nach seinen Vorstellungen zu verbessern. Die Variationsmöglichkeiten sind unendlich; vielleicht nur eine Veränderung des Lichtes (Sonnenschein statt graues Licht) oder das Aufräumen des Bildes, indem störende Elemente entfernt werden, wie z.B. der Domdiener, der aufdringlich zwischen Prinz Charles und dem Fotografen steht. Es sind noch ruhige, unauffällige Bearbeitungen des Bildes; nur zu, eine Drehung des Kopfes von Lady Di – und das zu ernste Gesicht wird zu einem lächelnden verwandelt und Prinz Charles, der zur Seite schaute, dreht nun liebevoll den Kopf.

Welcher Fotograf wartet auf den besonderen Augenblick, wenn er ihn selbst produzieren kann?18

Der „Neue Fotograf“ manipuliert nicht, er entwirft, konstruiert und produziert. Er braucht vielleicht nicht mehr zum Ort des Geschehens zu gehen, sondern er »greift« zum »Telefon« und lässt sich mit einem elektronischen Bildarchiv verbinden. Dort findet er Lady Di, Prinz Charles, den Dom und genügend Publikum, um sich sein Ereignis völlig synthetisch herzustellen. Die Herstellung einer vermeintlichen Wirklichkeit ist wieder perfekt. Eigentlich braucht Lady Di gar nicht mehr am Ort des Geschehens zu erscheinen.

Lady Di und Prinz Charles in Köln 1987. Scan vom Negativ.

Das digitale Bild erscheint in der Zeitung, ob es belassen, leicht verändert wurde oder aber völlig synthetisch ist, bleibt unwichtig. Das veröffentlichte Endprodukt unterscheidet sich scheinbar nicht wesentlich von einem konventionellen Foto, doch eines geht verloren: die Gewissheit, so und nicht anders ist es gewesen. Der historisch-dokumentative Wert des Bildes entfällt. Das Bild verweist nicht mehr auf Objekte eines abgebildeten Wirklichkeitsausschnittes, sondern wird selbst zum Gegenstand.

Unvorstellbar, dass, wie in den 1940er Jahren, der amerikanische Schauspieler James Stewart in einer US-Wochenschau mit einem Stapel Fotos als Dokument eines zu beweisenden Elends zu Spenden aufruft. Unvorstellbar, dass Fotos noch eine Beweiskraft haben. Die Authentizität des Bildes und des Fotos sind verloren gegangen.

Das Fazit

Ausgehend von der Annahme, dass die Still-Video-Systeme Anfang der 90er Jahre serienreif auf den deutschen Fotomarkt kommen, lässt sich folgender Schluss ziehen: Rund 150 Jahre wird einst die Epoche gedauert haben, während der man guten Gewissens vom Authentischen in der Fotografie sprechen kann. Die Übergangsphase hat bereits begonnen.

© Bernd Arnold, Köln 1988

Anmerkungen

  • 1 “Die Revolution der visuellen Kommunikation”, so wurde die Einführung des Still Video Systems in der Canon Photokina News 1986 eingeläutet
  • 2 Lohman, J.: Gegenwart und Zukunft der Forschung in der Fotografie, in: ProfiFoto März/April 1986, S. 62 ff.
  • Visuell 1/88, S.22
  • 4 Baus, H. und C.: ...zum Augenblicke sagen, verweile doch!, Köln 1985
  • 5 “Politiker besucht...” ist ein typisches, nur für die Presse inszeniertes Medienereignis, doch die politische Kultur, die hier mit Wissen des Politikers inszeniert wird, ist ablesbar.
  • 6 Kunstblatt, 24. Sept. 1839, zitiert in: Peters, U.: Stilgeschichte der Fotografie in Deutschland 1839-1900, Köln, 1979, S.22
  • 7 Schopenhauer zitiert in: Peters, U.: Stilgeschichte der Fotografie in Deutschland 1839-1900, Köln, 1979, S.134
  • 8 ebda., S.149
  • 9 ebda., S.149
  • 10 Gidal, T. N.: Deutschland – Beginn des modernen Photojournalismus, Luzern u. Frankfurt 1972, S. 8
  • 11 ebda., S. 8
  • 12 ebda., S. 20
  • 13 ebda., S. 19, 22
  • 14 Anders, G.: Die Antiquiertheit des Menschen – Band 2, München 1980, S. 250
  • 15 Freund, G.: Photographie und Gesellschaft, - Reinbeck bei Hamburg 1979, S. 119
  • 16 Britisches Prinzenpaar besucht Köln, in: Kölner Stadt-Anzeiger 4. Nov. 1987
  • 17 Schmid J.: Es kommt der elektronische Fotograf, in: European Photography 22, Göttingen April/Mai/Juni 1985, S.5 ff.
  • 18 Insbesondere unter Hinzuziehung des ständigen Konkurrenzdruckes, dem ein Fotograf ausgesetzt ist

Quellen

  • Anders, Günter: Die Antiquiertheit des Menschen, Band 2. Über die Zerstörung des Lebens im Zeitalter der industriellen Revolution, München: C.H. Beck, 1987.
  • Barthes, Roland: Die helle Kammer: Bemerkungen zur Photographie, Frankfurt: Suhrkamp, 1985.
  • Baus, Hermann und Clärchen: …zum Augenblicke sagen, verweile doch! Bilder von Hermann und Clärchen Baus aus sechs Jahren Theaterarbeit, Köln: Walther König, 1985.
  • Canon Photokina News 1986: Spezial-Ausgabe Photokina, Canon Inc., 1986.
  • Eco, Umberto: Einführung in die Semiotik, München: W. Fink, 1972.
  • Feininger, Andreas: Die neue Fotolehre, 12. Aufl., München: Knaur, 1976.
  • Freund, Gisèle: Photographie und Gesellschaft, Reinbeck: Rowohlt, 1979.
  • Deken Joseph: Computerbilder. Kreativität und Technik, Basel: Birkhäuser, 1984.
  • Gidal, Tim N.: Deutschland, Beginn des modernen Photojournalismus. Bibliothek der Photographie, Luzern-Frankfurt: Bucher, 1982.
  • Lohman, Joachim: Gegenwart und Zukunft der Forschung in der Fotografie, in: ProfiFoto, März/April 1986.
  • Kölner Stadt-Anzeiger: Fähnchen und Jubel für Lady Di, Britisches Prinzenpaar besuchte Köln, Köln, 4. Nov. 1987.
  • Kotzloff, Max: Vom Licht verbrannt. Einige lose Gedanken über Fotografie und Erinnerung, in: European Photography 19, Göttingen, 1984.
  • Morris, Charles W.: Grundlagen der Zeichentheorie. Ästhetik und Zeichentheorie, Berlin: Ullstein, 1979.
  • Peters, Ursula: Stilgeschichte der Fotografie in Deutschland 1839 – 1900, Köln: DuMont, 1979.
  • Scheurer, Hans J.: Zur Kultur und Mediengeschichte der Fotografie - Die Industrialisierung des Blicks, Köln: DuMont, 1987.
  • Schmid, Joachim: Es kommt der elektronische Fotograf, in: European Photography 22, Göttingen, April/Mai/Juni 1985.
  • Sontag, Susan: Über Fotografie, Frankfurt: Fischer, 1987.
  • Visuell: Baden-Baden, 1/1988.

Kölner Stadt-Anzeiger Titelseite Lady Di in Köln, 1987

Kölner Stadt-Anzeiger vom 4.11.1987, Seite 1
Foto © Bernd Arnold

Studienarbeit – Lady Di und der Neue Fotograf Fachprüfung Designtheorie 1988 Studienarbeit – Lady Di und der Neue Fotograf – Inhaltsverzeichnis Studienarbeit – Lady Di und der Neue Fotograf – Digital vs Analog Studienarbeit – Lady Di und der Neue Fotograf Studienarbeit – Lady Di und der Neue Fotograf – Authentizität der Fotografie Studienarbeit – Lady Di und der Neue Fotograf Studienarbeit – Lady Di und der Neue Fotograf Studienarbeit – Lady Di und der Neue Fotograf Studienarbeit – Lady Di und der Neue Fotograf Studienarbeit – Lady Di und der Neue Fotograf Studienarbeit – Lady Di und der Neue Fotograf Studienarbeit – Lady Di und der Neue Fotograf Studienarbeit – Lady Di und der Neue Fotograf Studienarbeit – Lady Di und der Neue Fotograf Studienarbeit – Lady Di und der Neue Fotograf Studienarbeit – Lady Di und der Neue Fotograf Studienarbeit – Lady Di und der Neue Fotograf Studienarbeit – Lady Di und der Neue Fotograf Studienarbeit – Lady Di und der Neue Fotograf

Nachtrag #1

Fotojournalismus und der Verlust der Authentizität

Dichografie – Lady Di und der Neue Fotograf. Bildbearbeitung 2019 2019 – rund 32 Jahre später – zeigt sich, dass im Zuge der Digitalisierung in den nächsten Jahrzehnten die Veränderung, mit der Fotografien bzw. Bilder rezipiert werden, weiter voranschreiten wird.

Der Wandel des Fotojournalismus ist noch nicht abgeschlossen. Die Fotografie nähert sich auf unterschiedlichen Ebenen der Malerei an. In gleichem Maße geht die Authentizität einer der Fotografie verloren. Die Zeitmaschine in die Vergangenheit, die durch die Erfindung der analogen Fotografie möglich gemacht wurde, wird nach und nach durch jede neue digitale Erweiterung in ihre Einzelteile zerlegt und verschwindet in einem Nebel der unendlichen Möglichkeiten. Was von diesem Zeitfenster bleibt, sind Artefakte bzw. Fotografien in physischer Form. Fotoabzüge, Negative, Zeitschriften und Fotobücher sind die zukünftigen Zeugnisse einer Vergangenheit, die sich mit den Worten es-ist-so-gewesen lesen lassen (können).

Bild oben und rechts: Dichografien 2019

Dichografie – Lady Di und der Neue Fotograf. Bildbearbeitung 2019

Nachtrag #2

So habe ich es gesehen

Cover der Künstlerzeitung Nr. 3 – So habe ich es gesehen, 2022

In der Künstlerzeitung "So habe ich es gesehen" von 2021/22 sind in einem Essay die Veränderungen der letzten 30 Jahre umrissen und mit einem Ausblick versehen. Dort finden sie auch eine Bildserie der Bundestagswahl von 2021 mit einer digitalen Konstruktion von Ereignissen, wie sie 1988 beschrieben sind.

Die Welt der Neuen Bilder: Über die zukünftige dokumentarische Fotografie und Komposition politischer Ereignisse – Dichografien

Nachtrag #3

Die Welt der Neuen Bilder
Dokumentarische Fotografie und KI neu!

Klappenbroschur, 14,5 cm x 19,8 cm, 144 Seiten, 25 sw Abbildungen,
morisel Verlag, ISBN: 978-3-943915-60-0, Preis: 19,90 Euro. Erscheinungstermin 6. Oktober 2023

Die künstliche Intelligenz schafft völlig neue Möglichkeiten in der Erzeugung von Bildern. Erstmals sind alle Bildgebungstechniken der Kunstgeschichte in einem Werkzeug zusammengeführt, ausführbar von jedem Computerbesitzer ohne besondere Fachkenntnisse. Erstellen lassen sich damit Bilder, die aussehen wie Fotografien, aber keine sind.

Wir betreten eine Neue Welt betreten, wenn authentische Fotos und KI-generierte Fotografie-Imitationen bei der Bildung unseres Welt- und Geschichtsbildes miteinander konkurrieren. Die drei Essays behandeln die Technik- und Wahrnehmungsgeschichte der Fotografie, das Neue und Innovative der KI und die zukünftige Rolle der dokumentarischen Fotografie und deren Produzenten.

Die Buchveröffentlichung wurde unterstützt durch
VISUM – Agentur für Fotografie

Taschenbuch – Die Welt der Neuen Bilder: Dokumentarische Fotografie und KI – Ansicht einer Seite im Andruck
»Es sind nicht die sensationellen Bilder, die das Vertrauen untergraben, sondern die Bilder, die wie alltäglich gewohnte Fotografien erscheinen, aber Fotografie imitieren, Realität modulieren und in den gewohnten Kanälen im Laufe der Jahre zunehmend verbreitet werden.«
Die Welt der Neuen Bilder, S. 65