Wahlkampfrituale
Das Bild
neben der Inszenierung
Katalogtext von Volker Schwennen
Anlässlich der Ausstellung WAHLKAMPFRITUALE
in der Galerie GIM, Bremen, 2011.
Ein Ritual ist eine Handlung, die stets nach vorgegebenen, meist formellen Regeln abläuft. Wir finden in fast allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens solche Rituale, ob auf einer Hochzeit oder einem Begräbnis, bei der Begrüßung oder anderen Begegnungen. Rituale können die Interaktion zweier Menschen, die Kommunikation untereinander vereinfachen, gleichsam auch behindern, wenn Rituale einen eher zwanghaften Charakter annehmen. Die großen Gesten der Politik, der geregelte Ablauf eines Gottesdienstes, die unterdrückte Begeisterung in einem klassischen Konzert nach dem ersten Satz nicht zu applaudieren bis hin zur Kleiderordnung in bestimmten Situationen – unser Leben ist vielfältig geregelt und wird von Ritualen bestimmt.
Fehlt der Ordnung die Struktur, kann sie mittels bestimmter Rituale oder symbolischer Handlungen wieder hergestellt werden. Je komplexer unsere Gesellschaft wird, umso wichtiger erscheint es, dass Systeme mittels bestimmter Rituale eine (neue) Stabilität erfahren. Rituale sollen uns an Regeln gewöhnen, auch dann, wenn wir sie nicht oder noch nicht verstehen können. Die Ritualisierung bestimmter Handlungsverläufe soll für Orientierung sorgen, auch dann, wenn man mit bestimmten Ritualen nichts verbindet. Manches war schon immer so, weshalb sollte man daran rütteln.
Die Ritualisierung einer ganzen Gesellschaft zu propagandistischen Zwecken haben insbesondere die Nazis vorgeführt. Rituale dienen Politikern aber auch in unserer heutigen Demokratie oft dem "Selbstzweck", wie der US-amerikanische Politologe Murray Edelman es nennt. Wir erwarten bestimmte Handlungen von der Politik und deren Protagonisten und so werden manche Debatten nur zum "Schein" geführt. Edelman nennt dies "Symbolpolitik", wobei das Symbolische für eine Politik des Scheins, der bewussten Täuschung, der Verschleierung, der Verstellung oder Verdrängung steht – die Politik als Unterhaltungsshow, als Medienspektakel und folglich der Massenmanipulation. Debatten werden zu Scheindebatten und zu substanzlosen Oberflächenbewegungen. Scheinmaßnahmen werden ergriffen, um die Bürger ruhig zu stellen. Die Inszenierung einer bestimmten Haltung rückt in den Vordergrund, das sachliche Argument bleibt hier oftmals auf der Strecke. So sprach Georg W. Bush von der "Achse des Bösen" und leitete daraus ab, dass das amerikanische Volk ein Recht habe, sich zu "verteidigen".
Das richtige Auftreten, der richtige Satz, die richtige Geste zum richtigen Zeitpunkt sind entscheidender geworden, als die Auseinandersetzung mit einem Thema an sich. So hängt das politische Handeln von der Ritualisierung zur Befriedigung entsprechender Erwartungen des Wählers stark von der Wirkung in der öffentlichkeit ab. Insbesondere in Zeiten des Wahlkampfs begegnen uns solche Inszenierungen, die – laut Edelman – nur einer reinen Symbolpolitik dienen, mehr Schein als Sein sind. Das die real existierende demokratische Politik von Lobbyisten, von Hinterzimmergeklüngel und von Eliten bestimmt wird, die an Intransparenz des politischen Systems interessiert sind, ist die überzeugung vieler, die lediglich den medialen Auftritt der Politik erleben können. Die ideologische überzeugung wird von der Inszenierung abgelöst, da die Zustimmungsbereitschaft der Wähler größer wird.
Nur was gut inszeniert ist, wird politisch belohnt, nur gute Shows erhalten noch die Unterstützung der Wähler und Wählerinnen, gibt der Bremer Politikwissenschaftler Frank Nullmeier zu bedenken. Er spricht davon, dass sich der Bezug zu den Politikinhalten durch die Faszination der Kraft der Inszenierung endgültig verlor. Durch den Ausbau der Wahlkampfapparate, die verstärkte Medialisierung von Politik, wurde die "Performance"-Dimension des Politischen in den Vordergrund gerückt. Medienberater und Spin Doctors, Wahlkampfmanager und Kommunikationsagenten wurden zu die öffentlichkeit stark interessierenden Strategen der Politik, so Nullmeier: Politik schien zu Politainment zu mutieren, Wahlkämpfe zu Inszenierungen, die auf expressive überwältigung der Wähler zielten.
Es gibt aber auch die "große Geste", die nicht unmittelbar geplant oder inszeniert wurde. Bekanntes Beispiel hierfür war der Kniefall von Willy Brandt vor dem Ehrenmal der ‚Helden des Warschauer Ghettos‘ am 7. Dezember 1970. Nach der obligatorischen Niederlegung eines Kranzes und dem Richten der Kranzschleife veränderte der damalige Bundeskanzler das Ritual, weiter im Stehen zu Gedenken, denn er verharrte einige Zeit und kniete dann vor dem Ehrenmal nieder. Diese – seinerzeit sehr umstrittene – überraschende Geste Brandt`s, die als Demutsbekundung, als Bitte um Vergebung gewertet wurde, ebnete der Ostpolitik den Weg, welche ihm den Friedensnobelpreis einbrachte – eine hohe Auszeichnung als Geste für die Geste des Kniefalls? So mancher fragte sich, ob der Kniefall kalkuliert gewesen sei. Brandt verneint dies. Er selbst schrieb in seinen Erinnerungen: "Am Abgrund der deutschen Geschichte und unter der Last der Millionen Ermordeten tat ich, was Menschen tun, wenn die Sprache versagt". Brandt schrieb auch, dass viele überrascht waren, weil sie "Neues" nicht erwartet hätten. Das Bild des Kniefalls brannte sich ins kollektive Bildgedächtnis ein. Heute einen Kniefall zu kritisieren – auch wenn er ‚nur‘ als Geste gedacht sei – käme einem "kulturellen Hochverrat" nahe, so der Soziologe Christoph Schneider. Für ihn bedeutet der Kniefall zum einen die Einbettung in einen zeithistorischen Zusammenhang, einer tiefgreifenden ethischen Katastrophe, dem nationalsozialistischen Genozid. Zum anderen habe das Bild, betrachte man es rein ästhetisch bezüglich seiner Formensprache, eine besondere ikonografische Tiefe, die wir bei anderen Bildern weniger feststellen können. Die Geste des Kniens auf beiden Knien habe eine natürliche, unverkennbare religiös anmutende Dimension. Allein diese bildliche Darstellung sei fest in unserer abendländischen Sakralsymbolik verankert und daher von jedem sofort deutbar, so Schneider.
Das Bild von Helmut Kohl und Francois Mitterrand auf dem Soldatenfriedhof in Verdun 1984: Minutenlang halten sich beide die Hand. Ebenso ein Bild mit symbolischer Bedeutung, das um die Welt ging. Inszenierung? Zwei Flugzeuge rasen am 11. September in die Twin Towers von New York. Die radikal islamischen Taliban sprengen in Afghanistan übermächtig wirkende Buddha-Figuren in die Luft. Auch Terroristen bedienen sich der Gesten mit enormer symbolischer Kraft.
Jede Zeit hat seine eigenen Bilder und Worte. Bilder haben eine eigene Sprache, denn sie erzählen auch immer eine eigene Geschichte. Die Fotografien von Bernd Arnold der Serie "Wahlkampfrituale" erzählen Geschichten von großen oder kleinen und oftmals verzweifelten Gesten. Arnold hat im letzten Vierteljahrhundert zigtausende Fotografien gemacht. Er besuchte immer wieder Wahlkampfveranstaltungen und dokumentierte diese auf ganz eigene Art. Er zeigt die mächtige Figur Helmut Kohl (von unten herauf fotografiert), die zusammengeballten, gegeneinander gepressten Fäuste von Gerhard Schröder oder den unglücklichen, oft vom Wahl- ‚Kampf‘ gezeichneten Ausdruck in so manchem Gesicht. Politiker, die sich auf großen Bühnen in Szene setzen. Politiker, die ausdrucksstark gestikulierend, fast beschwörend auf ihre ‚Gemeinde‘ einwirken – um ‚ihrer Stimme‘ willen.
Arnold bietet mit seinen Bildern keine Dokumentation der Rituale des Wahlkampfs im neutralen Sinne, sondern eher dokumentarisch im Sinne eines zeitgenössischen Blickes auf die Inszenierung und der eigenen Position dazu. Er beobachtet genau und schafft es, einen ganz bestimmten Moment einzufangen. Diese gezielten Momentaufnahmen können bei dem Betrachter zur Entschlüsselung so mancher Ritualisierung von Ereignissen beitragen. Seine Bilder entsprechen keineswegs denen, die Wahlkampfmanager und Politikberater ihren ‚Kunden‘ empfehlen würden. Bilder spielen im Wahlkampf eine große Rolle und so sind die Strategen stets darum bemüht, Fotografen vorteilhafte Ausgangssituationen für ganz bestimmte Bilder zu ermöglichen, die sie sich selber wünschen. In abgesteckten Bereichen und nur zu bestimmten Zeiten sollen die Fotografen die Möglichkeit haben, Bilder der Politprofis auf der Bühne zu ‚schiessen‘. Der Zufall soll möglichst ausgeschlossen werden. So sagte einmal Kanzler Schröder, dass man sich niemals nachdenklich und allein eine Treppe hinabgehend fotografieren lassen sollte, denn solch ein Bild könnte in einer bestimmten Situation medial gegen einen benutzt werden.
Bilder haben eine enorme Wirkung – im Wahlkampf ganz besonders. Arnold schafft Bilder, aber schmeichelt hier nicht unbedingt den politisch Handelnden. Er begibt sich in die ihm zugewiesenen Reihe der anderen Fotografen, gefällt sich aber in der Rolle, nicht das Bild zu machen, was alle machen ‚sollen‘, sondern das Bild, welches genau daneben liegt.
Text © Volker Schwennen
Fotografien © Bernd Arnold
Siehe auch weitere Literatur:
- Die Welt der Neuen Bilder
Dokumentarische Fotografie und KI
144 Seiten, 25 sw Abbildungen, morisel Verlag,
Asbach 2023, ISBN 978-3-943915-60-0 - So habe ich es gesehen
Über die zukünftigen Bilder politischer Ereignisse und deren Wahrnehmung
Künstlerzeitung #3, Köln 2022 - Die Wirkkraft des fotografischen Bildes
von Dr. Stefanie Lieb
Zwischenraum 01/2014 - Bildband WAHL KAMPF RITUAL
Monografie mit 113 Fotografien
Edition Panorama, 2013, ISBN 978-3-89823-473-3 - Ausstellung Macht und Ritual
Rede von Dr. Christoph Schaden
Ausstellung im Stadtmuseum Köln 2006 - Choreographie der Macht
von Hans-Michael Koetzle
Leicaworld 1/2000